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Aus dem Leben einer Spinne

Der innerste Kern der Spinne, ihr wahres Wesen, ist sanft und zart und strahlt so gar nichts Bedrohliches aus, denn im Herzen ist sie gutmütig und freundlich. Ihr Wesen scheint für uns im Widerspruch zu ihrem Körper zu stehen. Die Spinne selbst versteht nicht, dass ihr Äußeres auf uns so abschreckend wirkt. Für sie selbst ist ihr Körper perfekt. Er ist perfekt den Gegebenheiten der Natur angepasst und schenkt ihr die Möglichkeiten und Gaben, die sie zum Überleben braucht. Sie lässt uns Ihren Körper spüren, die behaarten Beine,  mit denen sie ihre Umgebung erspürt und wie behände sie  die Bewegung ihrer Beine koordiniert. Für unsere Wahrnehmung ist es verwirrend und faszinierend, für sie ganz leicht. Eigentlich sollten wir ihren Körper als Wunder betrachten, mit dem sie aus dem Nichts ein zartes und doch extrem belastbares Netz spinnen kann. Sie ist schnell, kann springen, kann sich zusammenkauern und ganz klein machen, sie kann klettern und über Kopf gehen. 

Ein Körper der so was kann, müsste eigentlich voller Respekt betrachtet werden. 

Wie verbringst Du Deine Tage und Nächte?


Die Spinne richtet sich nach den Gegebenheiten der Natur. Bei Hitze bevorzugt sie die Kühle der Erde. Dann kann sie sich eingraben und die Energie der Erde spüren. 

Regen kann ihr und ihrem Netz kaum etwas anhaben. Sie wartet einfach bis es aufhört zu regnen. Die Spinne ist eine Meisterin im Warten und verharren. Und gleichzeitig ist sie unheimlich flink und geschickt.

Unermüdlich ist sie mit dem Bau und der Ausbesserung ihres Netzes beschäftigt. Und dann wartet sie, sie kann lange verharren und warten. Lange Zeit, in der sie sich nicht bewegt. Manchmal vergeht der Tag ohne Beute. Aber wenn sich etwas in ihrem Netz verfängt, dann stößt sie zu. Egal wie lange sie in ihrer Starre saß, sie kann dann aus dem Nichts nach vorne schießen und ihre Beute packen. Sorgsam wird diese eingewickelt. So beginnt der Zersetzungsprozess in die für die Spinne verdaulichen Bestandteile. 

Die gegenwärtigen heißen Tage machen auch die Spinne träge und sie zeigt uns, wie sie mit an den Körper gezogenen Beinen tagsüber lieber ruht. Die kühlen Nächte dagegen mag sie derzeit lieber. Sie genießt die Frische, die Luft und die Geräusche der Nacht - es ist die ganze Atmosphäre der Nacht, die sie so mag. Morgens haben sich kleine Tautropfen in ihrem Netz verfangen. Sie spenden ihr Feuchtigkeit und es gefällt ihr, wie sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages darin fangen.

Die Spinne hat zwar eine andere Wahrnehmung als wir Menschen, sie sieht diese Dinge nicht so wie das menschliche Auge, aber in ihrer Wahrnehmung ist all das ebenso wunderschön. 

Was magst Du besonders an Deinem Leben? Was magst du nicht?

Sie scheint erstaunt über diese Frage, sie stellt sich für sie kaum. Es ist wie es ist, weder gut noch schlecht. Ja, es gibt Schönes und weniger Schönes, aber alles ist das Leben, wenn es im Ausgleich ist. Die Balance ist wichtig. Im Grunde mag sie es, in Balance zu sein, zentriert in sich selbst, umgeben von ihrer Welt. Die Spinne besitzt sehr viel Lebensweisheit. 

Dann zeigt sie uns noch einen Platz an der Hauswand, direkt unter dem Dachüberstand, ein perfekter Rückzugsort. Einen Apfelbaum, der gute Beute verspricht. Sie mag ihren Lebensraum in der Nähe des Hauses und im Garten.

Den Sommer mag sie mehr, den Winter nicht so sehr. Wenn die Tage kalt, kurz und feucht sind, dann muss sie sich ein Quartier suchen, in dem sie Unterschlupf findet. Die Nahrung wird dann knapp. Doch auch das nimmt sie wieder als ein Ausgleich zur Fülle des Sommers wahr.

Was ist Dir wichtig im Leben?


Ihr Lebensraum ist ihr wichtig, sie mag die Häuser, die ihr Schutz und die Gärten, die ihr Nahrung bieten. Gleichzeitig verfügt sie über eine große Anpassungsfähigkeit. Sie findet sich überall zurecht, kann ihr Netz an jedem Ort aufspannen. Sie ist heimatlos, ein Vagabund - das empfindet sie selbst als enorme Freiheit und Flexibilität. Die Spinne ist selbstständig, ist ihr eigener Chef. Sie muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Dadurch, dass sie auch nicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist, kann sie ihr Leben in völliger Unabhängigkeit leben. Ihre Beweglichkeit ist ihr in jeder Hinsicht wichtig. Sie zeigt uns das Gefühl, wie es ist, sich nahezu schwerelos an einem seidenen Faden abzuseilen, an ihm praktisch durch die Luft emporzuklettern, sich seine eigenen Wege zu spinnen in einer Welt, die sie mehrdimensional wahrnimmt. Sie liebt diese Art der Freiheit und Selbstständigkeit. 

Wovor fürchtest Du Dich?

Die Spinne fürchtet sich nicht. Wovor denn auch? Sie ist so anpassungsfähig, dass sie Nichts und Niemand so schnell aus der Bahn wirft. Sie weiß es gibt natürliche Fressfeinde, aber das sind die Regeln des Lebens. Sie hat ihren Platz in der Nahrungskette. 

Sie fürchtet sich auch nicht davor, dass Menschen oder andere Tiere ihr Netz zerstören. Geschieht dies mutwillig, dann macht sie das nur traurig, weil wir das Wunder nicht sehen.

Sie hat ein Bewusstsein, wie zart ihr Körper ist. Ihre größte Stärke, die mühelose Leichtigkeit, mit der sie sich bewegen kann, ist gleichzeitig ihre größte Verwundbarkeit, indem ihr Körper sehr verletzlich ist. Doch auch wenn sie eine gewisse Angst hat, zerquetscht zu werden, ist in ihrer Weltsicht mit diesem Ausgleich von Stärke und Schwäche  auch das innere Gleichgewicht wieder gegeben.


Hast du eine Botschaft für uns Menschen?

Ihre tiefere Botschaft klingt im Laufe des Gesprächs immer wieder durch: es ist die Leichtigkeit, der Einklang mit der äußeren Welt und das innere Gleichgewicht, das sie lebt. Wieder zurück finden in unsere eigene Lebenszeit, im Einklang leben mit unserer Umwelt und die Balance wahren, das können wir von der Spinne lernen. 

Die Spinne ist ganz eins mit sich und ihrer Welt und wie alle Tiere, mit denen wir bisher gesprochen haben, hat auch sie ihre eigene Zeit. Zeit, das lehren uns die Tiere, gibt es nicht. Zeit ist nichts als ein subjektives Empfinden. Jede Art hat ihre eigene Zeit. Die Spinne ist ganz und gar im Einklang mit der Spinnenzeit und zeigt uns damit auch, wie sehr wir Menschen aus unserer eigenen natürlichen Zeit gefallen sind. 

Stress gibt es für die Spinne nicht, es gibt nur das Leben. Ihr Leben besteht aus Phasen des ruhigen Verharrens, aus unermüdlicher Arbeit des Netzespinnens und aus blitzschnellen Bewegungen der Jagd. Sie ist ein vollkommener Jagdkünstler, beweglich in alle Richtungen, kann senkrecht empor klettern, sich mühelos abseilen, sich durch kleinste Zwischenräume zwängen. Sie ist bewandert in der Kunst des Fallenstellens, des Erlegens und der Verarbeitung ihrer Beute - und das alles in einem fast wunderbar anmutenden Miniturformat.

Sie weiß, dass sie auf uns Menschen abschreckend wirkt. Aber wir halten an Äußerlichkeiten fest. Wir sehen nicht den wahren Kern dahinter. Ihr Körper ist ein Wunder, das ganze Leben ist ein Wunder. Wir sollten mehr darüber staunen, wozu die Natur und das Leben so fähig sind. Wie alles funktioniert. Wie gut alles durchdacht ist. Und dass alles genau so ist, wie es auch sein soll.